Ich habe verschiedene Kommentare zu einem Artikel zum Weltjugendtag in der katholischen französischen Tageszeitung La Croix vom 26. Mai erhalten: «Die jungen Katholiken haben eine Übereinstimmung mit den vorherrschenden Werten aufgegeben.»
Gewiss, dieser Artikel bezieht sich auf Frankreich, das uns in Vielem nahe ist, sich aber auch in einigen Punkten unterscheidet, die direkt mit diesem Thema zusammenhängen. Katholikinnen und Katholiken fühlen sich dort häufiger von den Machthabern abgelehnt (vielleicht zu Recht), während dies in der Schweiz, die nicht von einer Revolution geprägt wurde, kaum der Fall ist. In der Schweiz gab es den Kulturkampf und konfessionelle Spannungen, doch das gehört weitgehend der Vergangenheit an, von der wir uns erholt haben. Vielleicht gehen wir hier das Risiko ein, das einem allzu friedlichen Konsens innewohnt …
Doch die im Artikel aufgeworfenen Fragen betreffen auch uns, denn wir müssen ein Gleichgewicht zwischen zwei Forderungen des Evangeliums finden.
Auf der einen Seite weist das Evangelium über uns hinaus, es stammt nicht von uns. Es lässt sich nicht aus einem aktuellen gesellschaftlichen Konsens ableiten: «Wir verkünden […], was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was keinem Menschen in den Sinn gekommen ist: das Grosse, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.» (1. Korinther 2, 9.) Unsere Kultur ist geprägt vom Evangelium, aber sie ist nicht das Evangelium. Ohne ständige und immer wieder vertiefte Verkündigung wird das Salz fade werden (vgl. Matthäus 5,13). Jesus sucht nicht unbedingt nach einem allgemeinen Konsens. Er bezeichnet seine Gesprächspartner schon mal als «böse und treulose Generation» (Matthäus 12,39). Er ist «nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert» (Matthäus 10,34). Wir sollten nicht denken, dass das, was der ungestüme Paulus sagt, nicht auf unsere Zeit zutrifft: «Verkünde das Wort, tritt dafür ein, ob man es hören will oder nicht; weise zurecht, tadle, ermahne, in unermüdlicher und geduldiger Belehrung. Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken, sondern sich Fabeleien zuwenden.» (2 Timotheus 4,2-4.)
Andererseits können wir nicht so tun, als ob Gott im Leben von Menschen abwesend wäre, die nicht zur kleinen Gruppe gehören, die wir selber definiert haben, indem wir uns in sie hineinbegeben haben. Als der heilige Paulus nach Athen kommt, findet er sich nicht in einem Milieu wieder, das ihm gefällt: «Während Paulus in Athen auf sie wartete, erfasste ihn heftiger Zorn; denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern.» (Apostelgeschichte 17,16.) Dennoch begegnet er den Athenern positiv und stellt sogar eine gewisse, wenn auch diffuse, Gotteserkenntnis fest: «Da stellte sich Paulus in die Mitte des Areopags und sagte: Athener, nach allem was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: EINEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch.» (Apostelgeschichte 17,22-23.) Jesus fordert uns auf, positiv auf diejenigen zu blicken, die nicht «für uns» sind: «Da sagte Johannes: Meister, wir haben gesehen, wie jemand in deinem Namen Dämonen austrieb, und wir versuchten ihn daran zu hindern, weil er nicht mit uns zusammen dir nachfolgt. Jesus antwortete ihm: Hindert ihn nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, der ist für euch.» (Lukas 9,49-50.) Bei den Jüngern gab es einen ängstlichen Rückzug, doch dies war noch vor dem Kommen des Auferstandenen und vor Pfingsten: «Als die Jünger aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen hatten, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!» (Johannes 20,19.)
Wir stehen in der Versuchung, aus Angst eine Festung um uns zu errichten. «Kirchenferne» Menschen (und Gott allein weiss, ob tatsächlich sie kirchenfern sind, oder nicht vielmehr wir selbst …) empfinden dies als verachtend. Wir würden dann Gefahr laufen, unsere Pflicht zu verfehlen, die darin besteht, ihnen zu verkünden, dass Gott sie liebt und dass Christus sein Leben für sie hingegeben hat. Ich fühle mich ein wenig an meinen Vorgänger, den heiligen Franz von Sales gebunden: «Seien Sie so sanft wie möglich und denken Sie daran: mit einem Löffel Honig fängt man mehr Fliegen als mit hundert Fässern Essig. Wenn man irgendetwas im Übermass geben muss, dann ist es Milde.» (Wenn jemand die Quellenangabe für mich findet, danke).
+ Charles Morerod OP
P.S. Schwester Anne-Françoise, Oberin der Visitandinnen in Freiburg, wies mich darauf hin, dass das Zitat nicht vom heiligen Franz von Sales stammt, auch wenn es an dessen Aussagen erinnert. Es ist nicht in der Ausgabe von Annecy (26 Bände) enthalten. Das Sprichwort findet sich bei «G. Torriano’s» im Jahr 1642, einer kleinen Sammlung von 650 Sprichwörtern.