Mitteilung an unsere pastoralen Mitarbeiter

Nach der Veröffentlichung eines Artikels in der Neuen Zürcher Zeitung[1] vom 13.12.2020, in dem die Journalistin klar differenzierte zwischen meinen eigenen Aussagen und denen, die aus anderen Quellen stammten (die ich nicht kennen muss), stelle ich fest, dass in der Fortsetzung[2] alles vermischt und so dargestellt wird, als ob diese Aussagen alle von mir stammen würden. Die unterschiedlichen Reaktionen, die ich gestern erhalten habe, veranlassen mich nun einiges klarzustellen, und zwar mit der Tatsache, dass es keinesfalls meine Absicht ist, die Hälfte der Priester wegzuschicken, sondern progressiv ihre Anzahl an die pastorale Wirklichkeit anzupassen.

Ausgangspunkt der kürzlich veröffentlichten Überlegungen, die übrigens gar nicht neu sind (sie sind seit meiner Ankunft vor 9 Jahren Gegenstand von Diskussionen im Bischofsrat), sind die Auswirkungen der totalen territorialen Abdeckung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf das Leben der christlichen Gemeinschaften, und dadurch auch auf die Priester (viele Kirchen wurden in dieser Zeit gebaut und viele Pfarreien gegründet). Heute führt dies bereits viele Gläubige, insbesondere junge Menschen (aber nicht nur) dazu, sich in erster Linie oder sogar fast ausschliesslich an zentralere Orte zu begeben, um die Unterstützung einer lebendigen Gemeinschaft zu spüren; ich stelle diese bereits bestehende Situation fest, die sich der Situation der Urkirche nähert, als man sich zur Eucharistie aus den umliegenden Städten und Dörfern versammelte. Einerseits gibt es diese spontane Bewegung, nämlich die Versammlung « freier » Gläubiger, andererseits die Zermürbung der Priester, die einem Dutzend Kirchgängern gegenüber stehen, die den Gottesdienst stumm von den hintersten Rängen aus verfolgen. Ein französischer Bischof erzählte mir von seiner eigenen Erfahrung der 1960er und 1970er Jahre, dass die meisten Priester, die das Priestertum aufgegeben haben, durch den Kontrast zwischen der Begeisterung, ihr ganzes Leben ihrer Berufung zu widmen, und der offenbaren Gleichgültigkeit ausgelaugt wurden. Natürlich weiss ich auch aus eigener Erfahrung, dass die Feier der Eucharistie, selbst in einer kleinen Gemeinschaft, dank der Gegenwart Christi einen Tag erfüllt. Mir ist ebenfalls bewusst, dass der Glaube einiger schweigender Menschen im hinteren Teil der Kirche einen verborgenen Schatz darstellt, und dass wir diese Menschen nicht aufgeben dürfen, als ob ihre stille Präsenz ein Problem wäre.

Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es ein Paradox: Da sich nur wenige Menschen gleichzeitig versammeln dürfen, habe ich vorgeschlagen, die Anzahl der Feiern zu multiplizieren, und ich danke all jenen, die dies tun, für ihr Glaubenszeugnis und ihre pastorale Sorge. Gleichzeitig kann uns diese Situation aufzeigen, wie die Zukunft aussehen könnte, wobei wir wissen, dass sich der Heilige Geist nicht an Statistiken ausrichtet.

In unserer Diözese gibt es seit einigen Jahren (wie auch in anderen Ländern) eine «Zelle» für den Empfang von «auswärtigen» Priestern (oder pastoralen Mitarbeitern, was aber seltener der Fall ist), welche zum Ziel hat, diesen Priestern einen Einblick in die lokalen Besonderheiten zu geben. Einmal im Jahr treffe ich mich mit ihnen, und wiederhole unter anderem folgendes: Da Ihre bisherigen Erfahrungen oft ganz anders sind, sollten Sie sich bewusst sein, dass die Schweizer Mentalität sehr egalitär ist (Gläubige als gehorsame Herde zu betrachten könnte gewisse allergische Reaktionen hervorrufen), und dass die Beziehungen zu den reformierten Kirchen freundschaftlicher Art sind. Ziel dieser Zelle (dieser Begriff hat nichts mit Gefängnis zu tun) ist es, diesen Priestern in ihrem Auftrag zur Seite zu stehen, auch indem wir unsere eigenen Fehler durch ihre Aufnahme bei uns korrigieren.

Über 60% der Katholiken in unserer Diözese sind ausländischen Ursprungs, und ich danke ihnen immer wieder für ihre Anwesenheit. Sie sind oft glücklich, einen Priester aus ihrem Herkunftsland anzutreffen, und dies nicht nur in den «Sprachmissionen»; einige heben auch hervor, dass sie hier in unerwarteter Weise als Laien respektiert werden. Und Schweizer freuen sich natürlich auch oft über die Lebensfreude ausländischer Priester. Diese Freude teile ich mit ihnen.

Es ist so, dass gewisse Fragen gestellt werden müssen: Die Art und Weise, wie unsere Gegend vor 60 Jahren abgedeckt wurde, um überall Gottesdienste oder andere Andachten zu feiern, muss dies buchstäblich in Stein gemeisselt bleiben? Kirchen, die nur wenige Gehminuten voneinander entfernt sind (in der Stadt …) führen zu einer Zersplitterung in kleinste Gemeinschaften, und die dort stattfindenden Feiern, insbesondere sonntags, manifestieren nicht mehr die Versammlung der ganzen Gemeinschaft, deren Zentrum die Gegenwart Christi in der Eucharistie ist. Welchen Dienst leisten wir den Kirchen, deren Priester wir hierher holen (der Vatikan warnt uns ständig davor)? Wie fördern wir Berufungen in der Schweiz (durch das Gebet in den Ordensgemeinschaften, durch das Wecken von Berufungen), wenn wir uns gleichzeitig sagen, dass es ja immer noch die Möglichkeit gibt, Priester aus dem Ausland zu holen?

Vertrauensvoll sage ich euch, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen diesen Ueberlegungen und den Umständen meiner eigenen Berufung, die mich störte und auf die eigentlich gar nicht hören wollte, obwohl ich diese Berufung schliesslich nie bereut habe.   Gegen Ende meiner Jugendzeit fragte ich mich, wer hier und jetzt die Zukunft unserer Kirche sichern würde. Wie hätte ich mich damals wohl entschieden, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, dass dieses nicht ganz selbstverständliche Geschenk meines Lebens nicht von Nutzen sein würde, da es ja anderswo genügend Reserven an Priestern gibt?

+ Charles Morerod op

[1] https://nzzas.nzz.ch/schweiz/bischof-will-priester-loswerden-ld.1591824

[2] Vgl. https://www.kath.ch/medienspiegel/bischof-will-priester-loswerden/ und https://www.kath.ch/newsd/bischof-charles-morerod-will-weniger-priester-und-gottesdienste/, Artikel, in denen ich mich ebenfalls äussern konnte

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